Gerd Simon

Ahlzeig:

Muttersprache - Vaterland

Claus Ahlzweig: Muttersprache - Vaterland.
Die deutsche Nation und ihre Sprache.
Westdeutscher Verlag. Opladen. 1994. 242 Seiten. kart. DM 44,--/öS 343,--/SFr 45,30
ISBN 3-531-12243-6

"(...) man kann geradezu von vier Höhepunkten muttersprachlicher Wirkungen im Leben des deutschen Volkes sprechen. Gekennzeichnet sind diese Höhepunkte nicht zuletzt durch das Aufkommen von Sprachprägungen, die schon auf dem ersten Blick etwas von der Tragweite dieser Geschehnisse erkennen lasen: zunächst die Prägung des Namens Deutsch, so dann das Aufkommen des Wortes Muttersprache, weiter die Rede von der uralten deutschen Haupt- und Heldensprache, und das Lied von des Deutschen Vaterland, das reicht, soweit die deutsche Zunge klingt. Man sieht, daß diese Vorgänge recht verschiedenartigen Lagen der deutschen Volksgeschichte angehören; sie zeigen uns das Werden des ersten deutschen Reiches, den deutschen Aufbruch an der Wende zur Neuzeit, den tiefsten äußeren Niedergang, die erste Erneuerung des Volksgedankens in der Neuzeit."

In diesem Zitat des deutschen "Linguisten-Papstes" - wie man ihn schon früh nannte - Johann Leo WEISGERBER, 1940 im Zusammenhang des >Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften< entstanden, ist zusammengefaßt, was bis in die Gegenwart hinein das Rückgrat sprachgeschichtlicher Rückblicke in der Germanistik bildete. Selbst Strukturalisten wie Eugenio Coseriu haben sich diesem Geschichtskonstrukt nicht entziehen können. Klaus-Hinrich Roth (>Deutsch<, Prolegomena zur neueren Wortgeschichte. Mchn. 1978) hatte dieses Konstrukt schon hinsichtlich des Wortes deutsch in den Grundfesten erschüttert. Ahlzweig unternimmt jetzt des gleiche hinsichtlich des Wortes Muttersprache.

Ahlzweig geht dabei nicht einfach nur auf die Quellen zurück, ergänzt sie nicht nur durch eigene Funde, er versucht auch durch diskurs- und kontextanalytische Rekonstruktion wesentliche Aspekte des historischen Gebrauchs von Muttersprache ein facettenreicheres und genaueres Bild der Entwicklung des Wortes zu gewinnen. Das mittellateinische materna lingua, aus dem Muttersprache als Lehnübersetzung hervorging, bezeichnete die Sprache des nicht literarisch gebildeten Volkes im Gegensatz zur Gelehrtensprache Latein, der lingua latina. Dieser Ausdruck konkurriert im Mittelalter mit lingua nativa, lingua vernacula, lingua rustica oder lingua nostra. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es Entsprechungen in den germanischen Sprachen, so im Deutschen neben deutsche Sprache, lantsprache und Stammessprache und deren Synonyma auch zuerst spärlich mütterliche Sprache und ihre Austauschbegriffe, dann im 15. Jahrhundert häufiger und auch als Kompositum Muttersprache. Ahlzweig findet heraus, daß der Begriff bezeichnenderweise bis ins 18. Jahrhundert gerade in solchen Kontexten fehlt, wo man ihn heute erwartet, wo nämlich der Sozialisationsvorgang direkt angesprochen wird.

Der Begriff Muttersprache verdankt sich nach dieser Untersuchung schriftsprachlicher Tradition. Er ist vom 16. Jahrhundert an die Bezeichnung der Schriftsprache der deutsch Gebildeten und fehlt noch heute den meisten Mundarten, in die er auch nur über die Dialektliteratur gleichsam als Lehnübersetzung aus dem Hochdeutschen Eingang findet.

Wolfgang Huber differenzierend, konstatiert Ahlzweig nicht nur, daß der in anderen europäischen Ländern wie England und Frankreich im 16. Jahrhundert aufkommende Patriotismus in Deutschland von vornherein in den Kulturbereich abgedrängt wird und sich dort vor allem in sprachreflektierenden Texten niederschlägt, sondern auch in dieser Zeit der Gebrauch von Muttersprache alles andere als einheitlich ist. Das gilt sogar für SCHOTTEL, der bei WEISGERBER als Hauptzeuge figurierte.

Die emotionale Aufladung des Begriffs Muttersprache vor allem nach den Befreiungskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts bringt Ahlzweig in Verbindung mit der Entstehung der modernen Kleinfamilie Ende des 18. Jahrhunderts. Alle Quellentexte vor 1800, in denen man seitdem diese Aufladung zu entdecken glaubte, gerade auch die von HERDER formulierten erweisen sich nach dieser Studie bei genauerem Hinsehen als Opfer von Reprojektionen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Die Sprache wird nach der Erfahrung der französischen Fremdbesetzung als mit der Nation verschmolzen gedacht und aus dieser sprachtheoretisch nie begründeten Verschmelzungsmetapher ein politisches Programm abgeleitet. Ausgerechnet in einer Zeit, als der Geschichtsgedanke wie nie zuvor in den Wissenschaften und gerade auch in den Sprachwissenschaften Fuß faßte, wird eine Enthistorisierung des Muttersprachbegriffs betrieben. Erstaunlich, daß auch Kritiker wie VOSSLER oder SPITZER, im übrigen auch MAUTHNER diesem Paradigma in wesentlichen Punkten verhaftet bleiben.

Ahlzweig faßt sein Urteil über die bisherigen Forschungen zur Geschichte des Wortes Muttersprache in einem Zitat Karl JABERGs zusammen, das dieser 1926 auf ganz andere Wortstudien gemünzt hatte:

"Hier wird die Wortgeschichte zur Farce. Man nimmt ein Wort, schreibt ihm eine Bedeutung zu, die es nicht hat, konstruiert eine Bedeutungsentwicklung, die nicht existiert, und zieht daraus kulturhistorische Schlüsse."

Bei dem riesigen Zeitraum, den die Darlegungen Ahlzweigs umspannen, ist es leicht, insbesondere Sekundärliteratur auszumachen, die sie übersahen. Manche Analysen bleiben natürlich auch hinter denen solcher Literatur zurück. Mir scheint das verzeihlich. Erstaunlich war für mich lediglich, daß die ausgesprochen themennahe Quellensammlung von Alan KIRKNESS (Zur Sprachreinigung im Deutschen: 1789-1871; eine historische Dokumentation. 2 Bände. Tübingen. 1975) keine Brücksichtigung fand. Auch das kann freilich nicht am Gesamturteil rütteln, daß wir es hier mit einem für Sprachwissenschaftler, Ideologiekritiker und Historiker , die sich mit dem deutschen Nationalismus befassen, grundlegenden Werk zu tun haben. Es wäre im Gegenteil wünschenswert, wenn seine Argumentationen das eingangs zitierte Gedankengut WEISGERBERs, seiner Wegbereiter, Weggenossen und Nachfolger nicht nur einfach kritisch zu beleuchten lehrt, sondern auch eine annähernd wohlwollende Aufnahme und Verbreitung fände.




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